Moderne Bibliotheken
Moderne Bibliotheken
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Bücher wurden in der Bibliothek Dokk1 im dänischen Aarhus bereits in die Nebenräume verdrängt. Statt gefüllten Regalen steht in dem 2015 errichteten Gebäude eine freie Fläche von 18 000 Quadratmetern im Mittelpunkt – und diesen Platz nutzen die Besucher nicht nur zum Lesen. Sie spielen hier Computerspiele, sie nähen und schneidern in Seminaren, sie halten einen Plausch, sie werkeln und experimentieren mit technischem Gerät in sogenannten „Maker Spaces“ oder gehen ihrer Arbeit nach („Work Spaces“).
Die Großbibliothek in der zweitgrößten Stadt Dänemarks ist ein Vorzeigeprojekt und bietet einen Ausblick darauf, wie Bibliotheken in Deutschland bald aussehen könnten. „Wir wollen die Nutzer dazu bringen, Bücher nicht mehr als Erkennungsmerkmal einer Bibliothek zu sehen“, sagte Dokk1-Chef Knud Schulz der Wochenzeitung „Die Zeit“. Diese Transformation ist in ganz Skandinavien weit vorangeschritten, – die Verantwortlichen haben dort frühzeitig auf die Verschiebung reagiert, die durch die digitalen Medien ausgelöst wurde. Wozu braucht es eine öffentliche Bibliothek, wenn das Wissen im Netz über Wikipedia und Co verfügbar ist, wenn E-Books die Massen an gedruckten Büchern obsolet werden lassen? Auch hierzulande sind analoge Buchleihen tatsächlich seit Jahren rückläufig, laut deutscher Bibliotheksstatistik ging die Zahl zwischen 2010 und 2016 von 193 Millionen Entleihungen auf 193 Millionen zurück.
Statt die Bücherei weiterhin als Aufbewahrungsort für Bücher zu definieren, haben besonders die Skandinavier die sozialen, kommunikativen und kulturellen Aufgaben in den Mittelpunkt gestellt. Und ihre Funktion als öffentlichen Treffpunkt entdeckt. Was Bibliotheken sein sollen, regelt in Dänemark sogar ein einheitliches Bibliotheksgesetz.
Auch ohne übergreifende Vorgaben entfernen sich die Einrichtungen hierzulande seit Jahren von ihrer Funktion als reine Buchausleihe, – auch wenn der Umbruch äußerlich nicht immer zu sehen ist. Die Amerika-Gedenkbibliothek in Berlin etwa ist längst zu einem bunt gemischten Versammlungsort geworden, der Leiter plant gar die Einrichtung eines Bürgerterminals, an dem Menschen ohne Zugang zur digitalen Welt ihre Behördenangelegenheiten regeln können. Auch in Hamburg ist die Zentralbibliothek auf dem Weg zu einer Art Gemeindezentrum. Als „dritten Ort“ bezeichnen Soziologen diesen Raum zwischen Wohnung und Arbeitsplatz.
Während die großstädtischen Bibliotheken ein breites Angebot auf die Beine stellen können, müssen sich die Einrichtungen im ländlichen Raum auf einzelne Aufgaben konzentrieren, wie Agnes Südkam-Kriete von der Büchereizentrale Niedersachsen sagt. „Die Kommunen müssen sich genau überlegen, welche Zielgruppe sie wie bedienen möchten.“ Auch hier seien gesellschaftliche Problemstellungen in den Fokus gerückt, besonders die Leseförderung stehe als Tätigkeit im Vordergrund. Mit einem freiwilligen Siegel kümmert sich der in Lüneburg ansässige Verein um Standards für moderne Bibliotheksarbeit. Deren Definition hängt im Landkreis Stade aber letztendlich von den Vorgaben der einzelnen Kommunen und Städte ab. Insgesamt gibt es 16 kommunale Bibliotheken mit 24 Zweigstellen, das TAGEBLATT hat sich die drei größten Bibliotheken im Landkreis angeschaut:
Aus dem Backsteinhaus in der Fischerstraße strömen Eltern mit ihren Kindern an der Hand, – das Bilderbuchkino in der Stadtbibliothek Buxtehude ist gerade zu Ende gegangen. Offensichtlich war es gut besucht. Auch nach der Vorlesestunde wirbelt der Nachwuchs noch durch die dreistöckige, verwinkelte Bibliothek. Ein „Psssst“ ist hier nicht zu hören, die Kinder dürfen und sollen sich ausleben. Im obersten Geschoss – zwischen und unter markantem Holzgebälk – sitzt derweil ein älterer Herr an einem Arbeitsplatz und geht einer Internetrecherche nach.
Das Veranstaltungsformat Bilderbuchkino gehört zu dem vielfältigen Kultur- und Bildungsangebot, das das Team um Leiterin Ulrike Mensching das ganze Jahr über organisiert. Poetry Slams, Autorenlesungen, Medienkisten für die Schulen – allein mit der Vorstellung aller Aktivitäten ließen sich ganze Seiten füllen. Sichtbar sind diese Tätigkeiten bei einem Besuch der 400 Quadratmeter großen Publikumsfläche in der Buxtehuder Bibliothek allerdings selten. Hier dominieren neben Kinderecke und einigen Sitzgelegenheiten noch die Bücherregale – weil in dem alten Fachwerkhaus schlicht der Platz für frei nutzbare Flächen fehlt.
Die gemütlichen Räume sind Segen und Fluch zugleich. Sie laden mit Wohnzimmerflair zum Verweilen ein, werden wegen der fehlenden Flexibilität einer modernen Bibliotheksarbeit aber nicht mehr gerecht.
Für die programmatische Neuausrichtung, die 2011 gestartet wurde, gab es 2018 den Bibliothekspreis der VGH-Stiftung. Während der physische Buchbestand in Buxtehude schrumpft, gewinnen andere Tätigkeitsbereiche immer weiter an Bedeutung: Ihre 14 Mitarbeiter sollen „bei Problemstellungen helfen“ oder diese Hilfe organisieren, wie Mensching sagt. Vernetzen sei mittlerweile die zentrale Aufgabe. Das gilt für Integrationsfragen, Digitalisierung und Belange des demografischen Wandels. Für Senioren gibt es Kurse für Online-Shopping und den Umgang mit Smartphones. „Wir wollen auch gegen die Vereinsamung im Alter ankämpfen“, so die Leiterin. An einer Nintendo-Switch-Konsole sollen Eltern und Kinder gemeinsam Medienkompetenz erlangen.
Die Förderung Lesefähigkeit steht hier als Zweig deutlich im Zentrum. Deswegen betreibt die Bibliothek auch Zweigstellen in den drei großen Schulen. Mit dem Gutschein für ein Startpaket, den das Team in den ersten Klassen verteilt, hat die Stadtbibliothek auch Jasmin Grießler und ihre beiden Kindern vor einigen Jahren als treue Kunden gewonnen. Die 39-Jährige kommt ursprünglich aus Unterschleißheim bei München und kennt diese Form der Bibliotheksarbeit nicht aus ihrer Heimat. "Ich finde das Angebot hier ganz toll. Es ist kinderfreundlich und ich genieße auch selbst das kulturelle Angebot", sagt sie. Auch das Personal sei klasse in Buxtehude.
"Nach achten Jahren Vollgas“, wie Ulrike Mensching sagt, will die Leiterin nun erst einmal die Füße stillhalten und keine Innovationen planen. Denn bald komme ein externer Berater ins Haus. Unter anderem, um das Platzproblem zu lösen.
10.57 Uhr mitten in der Woche, schräg gegenüber vom Stadeum: Rund ein Dutzend Menschen stehen vor der verschlossenen Glasschiebetür der Stadtbibliothek Stade und warten auf Einlass. Von der Schülerin bis zum Rentner sind hier alle Altersgruppen vertreten. Als sich die Pforte öffnet, verteilen sich die Besucher in alle Richtungen. Sie greifen zur Zeitung, holen sich einen Kaffee am Automaten, fertigen Kopien an, stöbern durch die Regale und geben Bücher zurück.
In dem 2006 eröffneten Gebäude erstreckt sich eine Publikumsfläche von fast 1000 Quadratmetern – ausgestattet mit großzügigen Freiflächen, viel Licht, einem Kinderbereich mit Holzschiff, Sofas und Sesseln, einer langen Tafel, Internetplätzen und Arbeitsnischen.
Möglich gemacht hat diesen Neubau, der weitsichtig als „dritter Ort“ mit hoher Aufenthaltsqualität geplant wurde, der Brand in der alten Bibliothek im Jahr 2003. Aus damaliger Sicht eine Katastrophe, kann der erzwungene Neustart in Hinsicht auf eine moderne Bibliotheksarbeit heute als Gewinn gelten.
Nach dem Brand hat die Stadt den gesamten Medienbestand erneuert. So umfassend, dass die Bibliothek die größte Spannbreite im Landkreis anbietet – von Romanen (14 000 Stück) über Kinderbücher bis zu Sachbüchern (19 000) sowie Computerspielen und vielem mehr. „Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, als Mittelpunktbibliothek das breiteste und aktuellste Angebot zu schaffen“, sagt Anja Arp, die stellvertretende Bibliotheksleiterin. Und dieser Ansatz wird honoriert - mindestens von Martina Hoops aus Stade, die die Stadtbibliothek regelmäßig besucht. "Ich bin immer wieder überrascht, wie aktuell und breit der Bestand hier ist", sagt sie dem TAGEBLATT. Auch das Angebot für den Nachwuchs, wie das Bilderbuchkino, gefällt ihr gut. "So werden die Kinder früh ans Lesen herangeführt."
Anja Arps Aussage nach nutzen die Leute ihre Einrichtung zunehmend als Begegnungsort. „Ganze Familien kommen für Spieletage her, Schüler geben sich Nachhilfe“, sagt sie. Das Haus werde zum Treffpunkt auch ohne Bibliotheksausweis und Konsumzwang. Und das sei gut so. Entwicklungen wie in skandinavischen Bibliotheken – vom Nähkurs bis zur Hilfe bei der Steuererklärung – beobachten die Stader, haben aktuell aber keine konkreten Pläne. „Wir schauen in Ruhe, wo wir uns einklinken können“, so Arp. Für ein Kursangebot seien getrennte Räume notwendig.
Neben der Leseförderung gehört auch die interkulturelle Bibliotheksarbeit zu den Tätigkeiten. Anja Arp hat beobachtet, wie sich die Bedürfnisse geändert haben. Statt Unterstützung beim grundsätzlichen Spracherwerb suchen die Eingewanderten nun eher Hilfe für die Führerscheinprüfung. Weiterentwickeln möchte das Team das Engagement an den Stader Schulen. Anja Arp: „Wir wollen moderner werden, etwa mit interaktiven Rallyes an Tabletcomputern.“
Wer Bücher ausleihen möchte, geht hier an ein Terminal. Auf dem Display „Ausleihe“ anklicken, den Büchereiausweis scannen, die Medien auf ein vorgezeichnetes Feld legen – fertig. Dass die Büchereinutzer ihre Bücher selbst ausleihen und zurückgeben können (aber nicht müssen), ist nur ein Aspekt der „Open Library“, die die Friedrich-Huth-Bücherei in Harsefeld einmal werden möchte.
„Open Library“ würde bedeuten, dass die Büchereinutzer mit ihrem Ausweis und einem Pin die Bücherei betreten können. So könnten längere Öffnungszeiten angeboten werden, ohne dass immer Mitarbeiter vor Ort sein müssen. Derzeit hat die Bücherei bis 18 Uhr geöffnet, am Donnerstag bis 19 Uhr. Aber viele Harsefelder pendeln zur Arbeit und kommen erst später zurück, weiß Bücherei-Leiterin Almut vom Lehn. Da wäre es doch gut, wenn sie auch am etwas späteren Abend noch in die Bücherei gehen könnten. „Oder warum nicht nach dem Abendbrot noch gemeinsam ein Spiel spielen“, fragt vom Lehn in Hinblick auf die vielen Familien, die die Bücherei nutzen.
Dass Personal aufgrund des neuen Konzepts überflüssig werden könnte, da müsse sich keiner Sorgen machen. Mitarbeiter, die jetzt noch viel mit der Ausleihe und Rückgabe der Medien beschäftigt sind, könnten sich dann auf andere Aufgaben konzentrieren, zum Beispiel auf die Beratung. Almut vom Lehns „ehrgeiziger Plan“, wie sie selbst sagt, war, die Bücherei schon im kommenden Jahr, wenn sie auf ihr 175-jähriges Bestehen zurückblickt, in eine „Open Library“ umzuwandeln. Das wird knapp, bis zur Umsetzung muss noch einiges geprüft werden. Innerhalb der nächsten zwei bis drei Jahre könnte es so weit sein. Auf jeden Fall stehen der Rat und die Verwaltung hinter den Plänen, freut sich die Bücherei-Leiterin.
Eine weitere Entwicklung hat es bereits in den letzten Jahren gegeben: Die Besucher halten sich wieder länger in der Bücherei auf. Auch die Harsefelder Bibliothek ist zum „dritten Ort“ neben dem Zuhause und der Arbeitsstelle beziehungsweise der Schule geworden. Kinder treffen sich zum Spielen, Familien suchen gemeinsam Bücher aus, manche Büchereinutzer kommen auch nur zum Arbeiten oder Zeitunglesen. „Eine Bibliothek ist einer der wenigen öffentlichen Orte, an denen man sich ohne Weiteres kostenlos aufhalten kann“, erklärt sich vom Lehn die Entwicklung. Und Harsefeld selbst sei ja durch sein Neubaugebiet gewachsen, viele Familien mit Kindern zogen in den vergangenen Jahren in den Flecken.